1937 veröffentlichen die Cahiers du Sud zum zweiten Mal einen Text von Walter Benjamin: L’angoisse mythique chez Goethe.

Es ist ein Auszug aus dem Wahlverwandtschaften-Aufsatz, der für die Sondernummer der Cahiers über die Deutsche Romantik von Pierre Klossowski übersetzt wurde.

1938 bezieht Benjamin in Paris sein letztes Quartier in der Rue Dombasle Nr. 10. Seine materielle Lage ist desaströs. Im Februar 1939 wird ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt.

Im September 1939 bricht der 2. Weltkrieg aus. Walter Benjamin wird, zusammen mit zahlreichen anderen deutschen und österreichischen Flüchtlingen, zuerst im Stadion Yves de Manoir in Colombes, dann in einem Lager nahe Nevers interniert. Seine Befreiung im November 1939 verdankt er unter anderem Adrienne Monnier, Jules Romains, Paul Valéry und Jean Ballard, die ihn mit Spenden und Empfehlungsschreiben unterstützten.
Im Juni 1940 marschieren die deutschen Truppen in Paris ein. Benjamin flieht zuerst nach Lourdes und trifft zwischen dem 16. und 20. August 1940 in Marseille ein. Ein letztes Mal.

Die Stadt ist nicht mehr mit dem Marseille von 1926 vergleichbar. Unzählige Emigranten, darunter sehr viele Deutsche, leben hier versteckt, ohne Papiere. Benjamin, um nicht als Deutscher erkannt zu werden, spricht und schreibt Französisch.

Es gibt nur eine einzige Frage, die ununterbrochen besprochen wird: Wie kommt man an Ausreisepapiere heran?
Benjamin durchstreift die Stadt jetzt nicht mehr als einsamer Flaneur. Er trifft, im Gegenteil, zahlreiche andere Emigranten, zum Beispiel Hannah Arendt und Arthur Koestler, sein ehemaliger Nachbar in der Rue Dombasle. Sie teilen sich Benjamins Vorrat an Morphium-Tabletten.

Soma Morgenstern begegnet ihm auf der Canebière und beschreibt ihn so: „Er hatte sich einen Bart wachsen lassen, hatte einen schwarzen Hut auf und sah wie ein Geistlicher aus.“
Sie gehen gemeinsam zur Präfektur, und treffen auf dem Weg dahin Siegfried Kracauer, „eifrig schreibend“, auf der Terrasse eines Cafés. Benjamin und Kracauer tauschen Gedanken über den Film aus und diskutieren über Krakauers „Marseiller Entwurf“, aus dem später, im amerikanischen Exil, seine bedeutende „Theorie des Films“ hervorgehen sollte.

Auch Fritz Fränkel, der Arzt, unter dessen Anleitung Haschischexperimente in Berlin stattfanden, hält sich in Marseille auf.
Lisa Fittko erzählte, dass Fränkel und Benjamin gemeinsam versuchten, als Matrosen verkleidet, auf einem Frachtdampfer versteckt, zu fliehen. Sie wurde jedoch sogleich entdeckt, weil man ihnen ansah, dass sie keine Matrosen waren... Zum Glück gelang es ihnen, im allgemeinen Chaos davonzukommen.

Lisa Fittko, die Ehefrau von Hans Fittko, mit dem Benjamin gemeinsam im Internierungslager war, hilft Emigranten mit Unterstützung des Bürgermeisters von Banyuls, illegal die französisch-spanische Grenze zu passieren.

Benjamin hat Ende August in Marseille beim amerikanischen Konsulat schon seinen Pass für die USA abgeholt, aber es fehlt ihm für die legale Ausreise die französische Ausreiseerlaubnis.

In dieser aussichtslosen Lage kommt nur noch der Versuch eines illegalen Grenzübertritts in Frage.
Am 23. September fahren Walter Benjamin, Henny Gurland und ihr Sohn Joseph mit dem Nachtzug nach Perpignan. Benjamin stellt sich Lisa Fittko vor und bittet sie, ihn und seine Begleiter über einen Schleichweg an die spanische Grenze zu bringen, um von dort aus über Spanien und Portugal nach Lissabon auf ein Schiff zu gelangen.

Lisa Fittko nennt ihn zärtlich den „alten Benjamin“, obwohl er erst 48 Jahre alt ist.
Am 25. September macht sich die kleine Gruppe, die aus Walter Benjamin, Henny Gurland und ihrem Sohn besteht, zu Fuß auf den Weg, den sonst nur Schmuggler benutzen, und der zur spanischen Grenze führt.

Für Benjamin war es schon schwierig, die Treppen bis in den vierten Stock zur Redaktion der Cahiers du Sud hinaufzusteigen, nun raubt ihm dieser Weg über die Pyrenäen seine letzte Kraft.
Die spanischen Zöllner verweigern der Gruppe den Übertritt nach Spanien, aber erlauben ihr, in einem kleinen spanischen Hotel in Portbou zu übernachten.
Aus Angst, erneut zurückgewiesen und an die Gestapo ausgeliefert zu werden, macht Benjamin seinem Leben ein Ende, indem er eine Überdosis Morphiumtabletten schluckt.

In seinem letzten Text „Über den Begriff der Geschichte“, der vor seiner Abreise nach Marseille im Mai 1940 in Paris fertig wurde, schreibt Benjamin: „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen.“


Aus Lourdes schreibt er am 16. August 1940 an Jean Ballard: „Ich mache mich in Kürze auf den Weg nach Marseille. Ich werde wohl eine Weile dableiben, ehe ich mich nach Amerika einschiffe. Es wäre mir ein wichtiges Anliegen, Sie in dieser Situation, die für Sie genauso traurig ist wie für mich, wiederzusehen. Das erfüllte mir den lang gehegten Wunsch, Ihnen in Erinnerung an unsere ersten Begegnungen vor fünfzehn Jahren die Hand zu schütteln.“

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Arthur Koestler schrieb über Benjamins Tod in Frankreich in Die Geheimschrift. Bericht eines Lebens: „Kurz bevor ich Marseille verließ, traf ich einen alten Freund, den deutschen Schriftsteller Walter Benjamin, wieder. Er war dabei, seine eigenen Vorkehrungen für die Flucht nach England zu treffen, allerdings auf einem anderen Weg. Da es ihm nicht gelungen war, eine Ausreisevisum aus Frankreich zu bekommen, beabsichtigte wer, wie Hunderte anderer Exilanten, die Pyrenäen zu überqueren. Er besaß 30 Morphiumtabletten, die er nehmen wollte, falls man ihn festnahm. Er sagte, dass es genug wäre, um ein Pferd umzubringen, und gab mir die Hälfte seines Vorrats, für den Fall der Fälle.
Am Tag, nachdem mir ein Visum endgültig verweigert worden war, erfuhr ich, daß Walter Benjamin, nachdem er erfolgreich den Pyrenäenpass überquert hatte, in Spanien festgenommen worden war, mit der Drohung, am nächsten Tag nach Frankreich zurückgeschickt zu werden. Am darauffolgenden Tag hatten die spanischen Polizisten ihre Meinung geändert, aber Benjamin hatte in der Zwischenzeit seine halbe Portion Morphiumtabletten geschluckt und war tot.“

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Am 28. September 1928 schrieb er in Marseille : „In dieser Stadt von Hunderttausenden, wo niemand mich kennt ...“.
Am 25. September 1940 findet sich in seinem Abschiedsbrief an Theodor W. Adorno, den er seiner Schicksalsgenossin Henny Gurland mitgibt, eine ganz ähnliche Formulierung: „Mein Leben wird in einem kleinen Dorf in den Pyrenäen enden, wo mich niemand kennt.“