Am 7. September 1926 reist Walter Benjamin zum ersten Mal nach Marseille.


Er trifft sich dort am 8. September im Café Riche mit seinem Kollegen und Freund, Feuilletonredakteur der Frankfurter Zeitung: Siegfried Kracauer.
Benjamin lernt Jean Ballard, den Herausgeber der Cahiers du Sud, kennen und stattet dem Redaktionskollektiv der Revue am Quai du canal Nr. 10 einen Besuch ab.

Marseille wird in diesen Jahren zu einer Industriestadt. Das elektrische Straßenbahnnetz durchzieht die gesamte Stadt von Nord nach Süd. Hinter der Börse reißt man aus sanitären Gründen eines der ältesten Viertel ab. Zurück bleibt eine große Freifläche, die ein halbes Jahrhundert unbebaut bleibt.
Walter Benjamin hat diesen großen leeren Platz sicher überquert, wenn er zur Hauptpost in der Rue Colbert ging, um seine Post abzuholen. Marseille, die maßlose Stadt, in der mit Gütern ebenso wie mit Prostituierten gehandelt wird, heißt nicht umsonst “Tor zum Orient”. Benjamin wollte von hier aus nach Palästina übersiedeln. Diesen Plan schob er jedoch unaufhörlich vor sich hin, bis er ihn schließlich gänzlich aufgab.

Kracauer schreibt zwei Texte: Die Bai und Das Carré und lässt das letzte Kapitel seines Romans Ginster rund um die Canebière spielen. Benjamin dagegen tut sich schwer damit, Marseille einen Satz abzuringen.
Wieder zurück in Berlin kündigt er Kracauer “vier kleine Miniaturen aus Marseille” an. Davon findet sich aber nur der Text “Kathedrale” im Aphorismenbuch Die Einbahnstraße wieder. Die Cathédrale de la Major am Industriehafen La Joliette wird bei Benjamin als ein Religionsbahnhof imaginiert.

Zwei Jahre später gesteht er anlässlich der Fertigstellung seines Denkbildes Marseille, dass diese zehn kurzen Texte der Stadt in zähem Kampf abgerungen wurden.

Der Pont Transbordeur ist DAS Symbol für Marseilles Modernität. Ein Photo des riesigen Bauwerks aus Stahl und Beton schmückt den Umschlag von Siegfried Giedions Buch “Bauen in Frankreich”, das von allergrößter Wirkung auf Benjamins Verständnis modernen Bauens war. Gestaltet wurde das Buch vom Bauhaus-Künstler Laszlo Moholy-Nagy, der am Alten Hafen von Marseille, um den Pont Transbordeur herum, seinen ersten experimentellen Dokumentarfilm drehte.

Nach seinem Urlaub an der Côte d’Azur kommt Walter Benjamin Ende September 1926 erneut nach Marseille, um sich ein zweites Mal mit Jean Ballard zu treffen.

Am 18. März 1927 erscheint in der Literarischen Welt Benjamins Text über die Cahiers du Sud und ihren Leiter Jean Ballard, der, anders als die Verleger und Herausgeber in Paris, Benjamin dazu einlud, in seiner Revue zu publizieren.

In dieser durch und durch europäischen Literaturzeitschrift hatte die internationale Literatur ebenso ihren Platz wie die französische Avantgarde.
Am 24. April 1927 weiht der französische Präsident Gaston Doumergue in Marseille mehrere bedeutende Bauwerke ein: die monumentale Freitreppe des Bahnhofs Saint-Charles, das Denkmal für die Gefallenen der Orientarmee und den Tunnel du Rove.